Medikamenteneinsatz bei Kindern und Jugendlichen

Medikamenteneinsatz bei Minderjährigen zwischen 1945 und 1975

In Eben-Ezer kamen Prüfpräparate nicht zum Einsatz

Lemgo. Wurden Kindern und Jugendlichen in Erziehungsheimen und Einrichtungen der Behindertenhilfe ohne ihr Wissen und ohne Zustimmung der Eltern neu entwickelte Medikamente verabreicht, um deren Wirkung zu erproben? Diese Frage kann jetzt in der Stiftung Eben-Ezer für den Zeitraum von 1945 bis 1975 mit einem eindeutigen Nein beantwortet werden. Allerdings gab es aus heutiger Sicht Mängel bei der medizinischen Aufklärung von jungen Bewohnern und Bewohnerinnen sowie Angehörigen. Dies sind zentrale Erkenntnisse einer aktuellen Studie, die Dr. Frank Konersmann, Historiker und Archivar der Stiftung Eben-Ezer, erarbeitet hat. Dr. Konersmann stellte seine vorläufigen Ergebnisse am Freitag, 18. November, beim Fachtag „Medikamente bei Kindern und Jugendlichen in Geschichte und Gegenwart“ der Stiftung in Lemgo vor.

Der Studie liegt eine Zufallsstichprobe von 112 jungen Eben-Ezer-Patienten und -Patientinnen zwischen 1945 und 1975 zugrunde. Aus den Akten gehe hervor, dass rund zwei Drittel dieser Jungen und Mädchen mit Psychopharmaka behandelt worden seien, teilte Dr. Konersmann mit. Über die Jahrzehnte seien insgesamt 168 verschiedene Medikamente zum Einsatz gekommen. „Aber keines davon war ein Prüfpräparat“, betonte der Historiker: „Sämtliche Medikamente hatten zum Zeitpunkt ihres Einsatzes schon Marktreife erlangt.“

Eine weitere zentrale Erkenntnis seiner Untersuchung: Durch die Medikamente wurde bei keinem Patienten und keiner Patientin eine Schädigung verursacht. „Es gibt keinen einzigen Beleg für langfristige Nebenwirkungen“, betonte Dr. Konersmann. Ebenfalls von wesentlicher Bedeutung: In Eben-Ezer wurden keine sogenannten Reihentestungen der Pharma-Industrie durchgeführt. Ein wirtschaftliches Interesse habe beim Einsatz der Medikamente also nicht bestanden, strich Dr. Konersmann heraus. Im Zentrum der Abwägungen um den Einsatz von Präparaten habe im traditionell mehr heilpädagogisch denn medizinisch geprägten Eben-Ezer das Wohlergehen der Patienten und Patientinnen gestanden. Bis in die 70er-Jahre hinein sei zwar ein Anstieg beim Einsatz von Psychopharmaka zu verzeichnen gewesen. „Es lässt sich aber in den Akten erkennen, dass in Eben-Ezer schon damals ausführliche und kontroverse Debatten über den Gebrauch von Medikamenten geführt wurden, als dies weder gesellschaftlich noch behördlich oder rechtlich überhaupt ein Thema war“, erläuterte Dr. Konersmann.

Der leitende Arzt der Stiftung Eben-Ezer, Thorsten Löll, betonte in seinem Vortrag zum heutigen Einsatz von Arzneimitteln, dass Psychopharmaka im untersuchten Zeitraum keineswegs nur einer sozialen Disziplinierung von Patienten und Patientinnen gedient hätten, sondern auch zu therapeutischen Zwecken eingesetzt worden seien. Im historischen Kontext sei zudem zu berücksichtigen, dass es im untersuchten Zeitraum anders als heute keine medizinischen Alternativen gegeben habe. „Wenn Sie einen Patienten behandeln, der häufig Anfälle erleidet, kann es schon naheliegen, ein Arzneimittel trotz kurzfristiger Nebenwirkungen einzusetzen, um diesem Menschen die Chance auf ein besseres Leben zu eröffnen“, erläuterte Löll.

Kritik übten Dr. Konersmann und Löll an der bis Mitte der 70er-Jahre gängigen Praxis, keine Aufklärung über die Verabreichung von Medikamenten vorgenommen und keine Einwilligungen von Erziehungsberechtigten eingeholt zu haben. Erst 1976 wurden in dieser Hinsicht mit der Einführung des Arzneimittelgesetzes klare Regelungen getroffen. „Vorher war das einfach nicht üblich – auch nicht in Eben-Ezer“, berichtete Dr. Konersmann. Heute hingegen ist die Lage eine völlig andere. „Ohne Aufklärung und Einwilligung der Eltern passiert hier nichts“, betonte Löll.

Dr. Bartolt Haase, theologischer Geschäftsführer der Stiftung Eben-Ezer, zeigte sich erleichtert über die zentralen Ergebnisse der Studie. Zugleich drückte er im Zusammenhang mit den nicht erfolgten Aufklärungen und Einwilligungen sein tiefes Bedauern aus. Wichtig sei es, aus Versäumnissen der Vergangenheit die richtigen Schlüsse für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen. Sich intensiv mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, sei dafür eine wesentliche Voraussetzung. „Wir in Eben-Ezer möchten mit der Studie unseren Teil zur Aufarbeitung beitragen, um Transparenz herzustellen und unserer Verantwortung für die Menschen gerecht zu werden, um die wir uns heute kümmern“, sagte er.

Die Stiftung Eben-Ezer ist seit 1. Januar 2022 Teil der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. Für Bethel hatte ein interdisziplinäres Forscherteam die Arzneimittelprüfungen an Minderjährigen in den Jahren 1949 bis 1975 bereits 2020 veröffentlicht. Die Medizinhistorikerin und Psychiaterin Prof. Dr. Maike Rotzoll erarbeitete die Studie mit Prof. emer. Dr. med. Dietz Rating, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, und dem Historiker Dr. Niklas Lenhard-Schramm vom Historischen Seminar der Universität Hamburg. Der Schwerpunkt lag auf der Untersuchung der Therapie von jungen Patienten und Patientinnen mit Epilepsie. Im Ergebnis zeigte sich, dass bei den länger als sechs Monate in Bethel stationär behandelten Kindern und Jugendlichen in knapp einem Viertel der Fälle noch nicht in Deutschland zugelassene Medikamente, sogenannte Prüfpräparate und Import-Medikamente, zum Einsatz kamen. In den Krankenakten wurden keine schriftlichen Genehmigungen der Eltern oder eines Vormunds gefunden, in Einzelfällen gab es Hinweise auf eine indirekte oder mündliche Zustimmung durch Erziehungsberechtigte.

Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen einer möglichen Schädigung von Bewohnern und Bewohnerinnen und der Arzneimittelerprobung konnte zwar nicht festgestellt werden. Und Aufklärungen über Arzneimitterprobungen zu geben und Einwilligungen von Erziehungsberechtigten einzuholen war laut den Autoren damals kein klinischer Standard. Gleichwohl wäre dies, so das Resümée der Autoren, „rechtlich wie ethisch geboten“ gewesen. „Auch wenn hier ein längst abgeschlossenes historisches Kapitel aufgearbeitet wurde, nehmen wir die Versäumnisse der Vergangenheit deutlich wahr und bedauern sie zutiefst“, betonte Bethel-Vorstand Pastorin Dr. Johanna Will-Armstrong im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Studien im Jahr 2020.

+ Zurück