Herausforderungen und Chancen einer Biographie über den Heilpädagogen Herbert Müller (1906-1968)

von Frank Konersmann

Der Volks- und Hilfsschullehrer Herbert Müller (1906−1968) war ab 1928 als Lehrer, Erzieher und Pfleger in der Heilund Pflegeeinrichtung Eben-Ezer in Lemgo tätig: ab 1932 als Leiter der Anstaltsschule, von 1939 bis bis zu seinem Tod 1968 als Anstaltsleiter. Das von ihm geprägte heil- und sonderpädagogische Profil der Anstalt erfuhr während des NS-Regimes gravierende Änderungen. Müller war kein überzeugter Nationalsozialist, sah sich aber zum Mitmachen verpflichtet und trat 1937 der NSDAP bei. Nach 1949 eröffnete sich ihm eine zweite Chance, die Anstalt weiter zu entwickeln. Mit Unterstützung engagierter Mitarbeiter baute er das Stiftungsgelände Neu Eben-Ezer auf.
Im Wohnverbund für Kinder und Jugendliche und anderen Einrichtungen ist sein Wirken heute noch präsent. Die vorliegende Biographie soll Herbert Müller im Stiftungsgedächtnis neu verankern.

I. Vorbemerkung zu den gewählten Betrachtungsweisen

Bei den folgenden Ausführungen bilden zwei Aspekte den Fokus der Betrachtung: Zum einen soll auf methodische Herausforderungen einer Biographie über den Heilpädagogen Herbert Müller aufmerksam gemacht werden, der außerhalb der Heil- und Pflegeeinrichtung Eben-Ezer in Lemgo kaum oder gar nicht bekannt gewesen sein dürfte. Zum anderen soll auf histo-riographische Chancen eines solchen biographischen Vorhabens hingewiesen werden, die sich insbesondere bei der Beachtung der heilpädagogischen Ausbildung und Praxis Herbert Mül-lers als Erzieher und Lehrer ergeben. Denn sie eröffnen, erstens, nähere und präzisere Ein-blicke in Vorgänge und Mechanismen der Betreuung, Pflege und Erziehung innerhalb von Einrichtungen der Inneren Mission, die dort vor, während und nach dem NS-Regime üblich waren, und, zweitens, erlauben sie Einsichten in die spezifische Funktion von Anstaltsschulen in diakonischen Einrichtungen und in die Rollen von Heilpädagogen im Kontext veränderter politischer Ordnungssysteme und Weltanschauungen.

II. Bemerkungen zum Lebenslauf Herbert Müllers und zum Anliegen seiner Biographie

Der Heilpädagoge Herbert Müller war über vierzig Jahre hinweg in verschiedenen Positionen der Einrichtung Eben-Ezer tätig. Er wurde am 1. Oktober 1928 im Alter von lediglich 22 Jah-ren als Erzieher, Lehrer und Hausvater eingestellt. Knapp vier Jahre später übernahm er am 26. Februar 1932 die Leitung der Anstaltsschule. Weitere sieben Jahre später wählte ihn der Vorstand Ende Januar 1939 zum neuen Anstaltsleiter. Diese Position übernahm er offiziell am 1. Mai 1939 und versah dieses Amt ohne Unterbrechung bis zu seinem plötzlichen Tod am 22. Dezember 1968, als er im Alter von lediglich 62 Jahren an einem Herzinfarkt starb.


Demnach war Herbert Müller in der leitenden Funktion eines Anstaltsleiters über fast 30 Jahre in Eben-Ezer tätig, also nahezu die Hälfte seines Lebens. Damit hatte er dieses Amt deutlich länger als jede bzw. jeder seiner vier Vorgänger/innen, zu denen bekanntlich auch Lina Topehlen (1871-1888) gehörte, und auch länger als jeder seiner vier Nachfolger in Eben-Ezer inne. Insofern ist die Biographie Herbert Müllers über einen mehrere Jahrzehnte umfas-senden Zeitraum eng mit der institutionellen Geschichte dieser diakonischen Einrichtung verwoben. Denn Müller lebte, wohnte und arbeitete nahezu drei Viertel seines Lebens in Eben-Ezer, begegnete dort seiner späteren Ehefrau, der Kleinkinderlehrerin Anna Tacken-berg, und gründete mit ihr eine Familie, aus der drei Kinder hervorgingen. Zudem war Müller in einem Zeitraum in Eben-Ezer in leitenden Funktionen tätig, der von gravierenden gesell-schaftlichen und politischen Umbrüchen gekennzeichnet war. Denn es folgten aufeinander und bestanden phasenweise auch gleichzeitig konträr zueinander stehende gesellschaftliche Ordnungssysteme und politische Verfassungsordnungen: Die Weimarer Republik, der NS-Staat, die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik. Die mit diesen Stichworten nur angedeuteten verfassungsrechtlichen Umbrüche ereigneten sich also, als Herbert Müller in zentralen Positionen für Eben-Ezer tätig war, nämlich als Leiter der An-staltschule seit 1932 und als Anstaltsleiter seit 1939, so dass er an wesentlichen Entscheidun-gen in den Leitungsgremien beteiligt und über zentrale Vorgänge innerhalb und außerhalb Eben-Ezers informiert gewesen sein müsste. Das sind zumindest die berechtigten Annahmen, die dem Auftrag für die Ausarbeitung seiner Biographie zugrunde gelegen haben.

III. Die Persönlichkeit Herbert Müllers – Herausforderungen für eine historische Betrachtung seines Werdegangs und seines Selbstverständnisses

Zwar sind von Herbert Müller zahlreiche Schriftstücke aus der Verwaltungspraxis im Stiftungsarchiv erhalten, aber persönliche Aufzeichnungen, in denen er zu Entscheidungen und Vorgängen schriftlich Stellung genommen hätte, sind bisher nur auffallend wenige gefunden worden. Das gilt auch für die meisten Schriftstücke aus privater Überlieferung, die sein Schwiegersohn Werner Bussemeier für die Erstellung der Biographie zur Verfügung gestellt hat. Denn bei ihnen handelt es sich zumeist um amtliche Dokumente, Schriftwechsel mit Äm-tern und Zeugnisse über Herbert Müllers Leistungen und Fähigkeiten. Demnach lässt sich wegen fehlender Selbstzeugnisse kaum etwas unmittelbar dazu sagen, was, wie und wann Herbert Müller nachweislich wahrgenommen, empfunden und gedacht hat. Daher müssen seine Überzeugungen, Einstellungen, Vorlieben, Urteile und Entscheidungen überwiegend aus seiner vielseitigen Amtspraxis unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände erschlossen und umsichtig rekonstruiert werden. Solchen Konstrukten haftet also mehr oder weniger ein hypothetischer Charakter an, dem nur mit Hilfe von Ansätzen und Ergebnissen aus diversen Zweigen historischer und sozialwissenschaftlicher Forschung zumindest eine gewisse histori-sche und sachliche Plausibilität verliehen werden kann, so dass eine interdisziplinär angelegte Vorgehensweise und eine entsprechende Interpretationsvariabilität erforderlich sind. Denn es sind zu erläutern und zu interpretieren beispielsweise Herbert Müllers Frömmigkeitsverständ-nis als Laienbruder der evangelischen Gemeinschaftsbewegung, sein berufliches Selbstver-ständnis als Heilpädagoge, sein Führungsstil als Hausvater im Geiste der Inneren Mission, seine Einschätzung des NS-Regimes als leitender Angestellter Eben-Ezers und insbesondere seine Wahrnehmung und Beurteilung von zunehmend rigoroseren Mechanismen und Rede-weisen, die geistig und psychisch behinderte Menschen disqualifizierten, negativ diskrimi-nierten, gezielt Gefahren aussetzten, ihren Tod herbeiführten und auch auf ihre Ermordung zielten.

Derartige methodische Herausforderungen – zumal bei einer teilweise doch sehr lückenhaften Überlieferungslage – sind allerdings nicht der Normalfall einer Biographie, zumin-dest nicht bei traditionell angelegten biographischen Darstellungsformen. Denn Biographen bevorzugen zumeist außergewöhnliche Personen ihrer jeweiligen Zeit wie beispielsweise den Philosophen Theodor W. Adorno (geb. 1902), den Theologen Dietrich Bonhoeffer (geb. 1906), den Publizisten Sebastian Haffner (geb. 1907), den Heilpädagogen Karl Tornow (geb. 1900) und den Reichsführer SS Heinrich Himmler (geb. 1900). Alle diese prominenten Per-sonen waren zwar ähnlichen Alters wie Herbert Müller (geb. 1906), sie wurden jedoch – im Unterschied zu ihm – von vielen ihrer Zeitgenossen wahrgenommen und erwähnt, so dass zahlreiche Quellen zur Verfügung stehen, zumal sie selbst vielerlei Selbstzeugnisse hinterlas-sen haben. Hingegen ist bei eher gewöhnlichen Personen – zu denen Herbert Müller zweifel-los zu zählen ist – eine breite Quellengrundlage nicht gegeben, weil die meisten Menschen in Geschichte und Gegenwart selten privat Notizen machen, etwa in einem Tagebuch, und die sich in der Regel auch nicht in Briefen ausführlich mitteilen, geschweige denn, dass sie re-gelmäßig korrespondieren. Immerhin bietet sich bei solchen Personen aber die Chance, sie als Vertreter einer bestimmten Berufs- und Altersgruppe zu betrachten, das gilt insbesondere für ihre Generationslagerung gemäß den systematischen Betrachtungen des Soziologen Karl Mannheim. Für eine solche sozialwissenschaftliche Einordnung besagter Jahrgänge um 1900 bieten die sozial- und kulturgeschichtlichen Untersuchungen der beiden Historiker Detlev Peukert und Michael Wildt eine hilfreiche Orientierung.

Freilich sind bestimmte Zeiträume – so etwa die Reformation – und vor allem manche Sozialkreise – insbesondere Künstler, Gelehrte, Wissenschaftler und Kaufleute – in der Ge-schichte dafür bekannt, dass Tagebuch führen und regelmäßig Briefe schreiben zeitweilig zu dem Selbstverständnis der Mitglieder von intellektuell engagierten und beruflich mobilen Gruppen gehörten, denen der schriftliche Gedankenaustausch – aus welchen Gründen auch immer – ein elementares Bedürfnis war. Zu solchen Sozialkreisen dürfte der aus einer Fach-arbeiterfamilie stammende Herbert Müller nicht gehört haben, zumindest gibt es für eine Zu-ordnung Müllers zu beruflich, kirchlich oder diakonisch engagierten Sozialkreisen keinerlei Indizien. Zweifelsohne waren ihm pädagogische und christlich-erzieherische Ambitionen ge-genüber Kindern und Jugendlichen eigen und er engagierte sich für sie auch außerhalb Eben-Ezers etwa im CVJM von Lemgo seit 1937, ohne dass er sich aber über solcherlei Aktivitäten und Interessen eingehender schriftlich mitgeteilt hätte. Freilich dürften ihm seine zahlreichen und zeitaufwendigen Aufgaben in Eben-Ezer auch kaum Zeit und Muße für persönliche Be-trachtungen und Aufzeichnungen gelassen haben, zumal ihm auch der für solche Reflektionen erforderliche Rückzugsraum fehlte. Denn er und seine fünfköpfige Familie mussten über zehn Jahre hinweg mit den eher beengten Räumlichkeiten im Männerhaus Vorlieb nehmen, bevor ihm der Vorstand im Februar 1941 eine eigene Wohnung zugestand.

Darüber hinaus trat Herbert Müller zumindest bis Ende der 1940er Jahre auffallend zurückhaltend auf und nahm sich selbst bei eigenen Belangen, Aufgabenfeldern und Zustän-digkeiten eher zurück, als dass er entschieden und selbstbewusst aufgetreten wäre, um seinen individuellen Interessen und beruflichen Anliegen – insbesondere als ausgewiesener und viel-seitig geschulter Heilpädagoge – gegenüber gleichrangigen Kollegen, Vorgesetzten, Behörden und anderen Einrichtungen Gehör und auch Geltung zu verschaffen. Das hatte beispielsweise zur Konsequenz, dass der 1929 eingestellte Anstaltsarzt Dr. Max Fiebig als sein unmittelbarer Kollege umso offensiver auftrat und seinen Interessen in Eben-Ezer umso zielstrebiger nach-ging. So konfrontierte er schon früh den Vorstand mit vielfältigen Forderungen, die nicht nur auf eine bessere medizinische Ausstattung seines Arbeitsbereichs, sondern auch auf eine ex-ponierte Rolle im Vorstand zielten. Aus eigenem Antrieb und beruflichem Ehrgeiz korre-spondierte er mit Fachleuten wie beispielsweise mit Prof. Dr. Ernst Rüdin, einem der führen-den Psychiater und maßgeblichen Vertreter der Rasseneugenik, im Zusammenhang der von Dr. Fiebig in Eben-Ezer seit 1934 eingeleiteten Sterilisationsverfahren. Trotz mancher Ei-genmächtigkeiten dieses Anstaltsarztes, der beispielsweise die Unterschrift zu seinem Ar-beitsvertrag während der sieben Jahre seiner Amtszeit wiederholt verweigerte und damit die Satzung Eben-Ezers nicht anerkannte, ließ ihn der Vorstand auffallend lange gewähren. Al-lerdings fand der Anstaltsarzt u. a. bei dem Amtsarzt Dr. Max Frenzel, der seit 1935 im Vor-stand Eben-Ezers Mitglied war, einen starken Rückhalt, der ihn auch nach seiner Entlassung in Eben-Ezer 1936 weiterhin unterstützte.

Abgesehen von diesem Anstaltsarzt ist darauf hinzuweisen, dass auch sein Nachfolger – der Medizinalrat Dr. Hans Haberkant – in seiner medizinischen Praxis weder von dem An-staltsleiter Heinrich Diehl noch von seinem Nachfolger Herbert Müller und auch nicht von den beiden Vorstandsvorsitzenden, den Pastoren Enno Eilers und Kasimir Ewerbeck, kontrol-liert wurde, und wenn – wie beispielsweise im Januar 1937 – dahingehend, dass der Anstalts-leiter Diehl das ausbleibende Engagement Dr. Haberkants ausgerechnet bei Sterilisationsver-fahren monierte. Als dieser Arzt im April 1937 einen 14 Jahre alten Jungen, der an Epilepsie litt, infolge einer Insulinschocktherapie zu Tode brachte, zog diese zumindest mutwillig und fahrlässig vorgenommene, wenn nicht sogar gezielt durchgeführte Therapie des Arztes jedoch keinerlei Konsequenzen für ihn nach sich, der stattdessen bis zu seinem Tod 1944 als An-staltsarzt in Eben-Ezer tätig blieb.

Ein solchermaßen selbstbewusstes und auch dominantes Auftreten insbesondere des Anstaltsarztes Dr. Max Fiebig ist von dem Heilpädagogen Herbert Müller bis in die späten 1940er Jahre hinein nicht überliefert, das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Denn selbst in dem ersten Jahrzehnt als Anstaltsleiter handelte er auffallend vorsichtig, beobachtend und insge-samt sehr zurückhaltend, so dass er sich auch entsprechend mitteilte. So erklärte er sich aus eigenem Antrieb im Juni 1940 dem Vorstand gegenüber dazu bereit, sein seit April 1939 be-stehendes provisorisches „Anstellungsverhältnis [als Anstaltsleiter, F.K.] in der bisherigen Form für eine längere Zeit als vorgesehen aufrecht zu erhalten“, und zwar – wie er schrieb – „im Interesse der Schaffung einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem Vorstand und insonderheit mit dem neuen Vorsitzenden“. Mit diesen Worten nahm der Anstaltsleiter Mül-ler auf den Superintendenten Kasimir Ewerbeck Bezug, der am 24. Juni 1940 zum neuen Vor-standsvorsitzenden Eben-Ezers gewählt wurde.

Dieses Angebot Müllers an den Vorstand, sein Anstellungsverhältnis für längere Zeit den Umständen entsprechend flexibel zu gestalten, ist sowohl mit Blick auf die überaus Kri-sen beladenen Zeitumstände als auch in Anbetracht dessen, dass er mittlerweile eine Familie mit drei Kindern zu versorgen hatte, erstaunlich und irritierend zugleich. Denn seine Stel-lungnahme vom Juni 1940 gibt letztlich ein erhebliches Vertrauen gegenüber den beiden Vor-standsgremien zu erkennen, obwohl seine beiden Förderer und Gönner – der vormalige An-staltsleiter Heinrich Diehl und der gerade erst zurückgetretene Vorstandsvorsitzende Pastor Enno Eilers – diesen beiden Gremien nicht mehr angehörten, hingegen neuerdings wieder die beiden Pastoren Albert Hettling und Hans Hänisch. Sie beide hatten erhebliche Bedenken gegenüber dem neuen, 33 Jahre alten Anstaltsleiter Müller, dem sie offenbar eine erhebliche Affinität zum NS-Regime unterstellten, so dass sie im Januar 1939 einen aus dem Rheinland stammenden, 59 Jahre alten Missionar als Gegenkandidaten bei der Wahl des Anstaltsleiters aufgeboten hatten. In Anbetracht dieser allem Anschein nach nicht unberechtigten Vorbe-halte der beiden Pastoren Müller gegenüber vertraute dieser offenbar ganz auf die Durchset-zungskraft und den autoritären Führungsstil des neuen Vorstandsvorsitzenden Pastor Kasimir Ewerbeck, dem er überdeutlich Ergebenheit und hohe Anpassungsbereitschaft signalisierte. Eine solche Haltung hatte er freilich auch schon in den Jahren zuvor dem Anstaltsleiter Hein-rich Diehl entgegengebracht, dem er seine frühzeitige Anstellung im Oktober 1928 maßgeb-lich zu verdanken hatte, als er sich im Alter von 22 Jahren befand. Die enge persönliche Be-ziehung Herbert Müllers und seiner Familie zu dem Anstaltsleiter Heinrich Diehl und dessen Familie lässt sich an der folgenden Abbildung aus den späten 1930er Jahren erahnen.

Abb. 1: Die Familien Müller und Diehl im Esszimmer der Wohnung des Anstaltsleiters Heinrich Diehl

Abb. 1: Die Familien Müller und Diehl im Esszimmer der Wohnung des Anstaltsleiters Heinrich Diehl

Diese von Dankbarkeit, Bescheidenheit, Pflichtbewusstsein und Gehorsam geprägte Einstellung des Heilpädagogen Herbert Müller war auch ausschlaggebend für seine Entscheidungen und Verhaltensweisen in den verschiedenen Aufgabefeldern, die er seit 1928 als Erzieher, Lehrer, Hausvater und Schulleiter im Dienste Eben-Ezers übernahm und die er seit 1933 auch im Dienste verschiedener parteinaher Organisationen wahrnahm; manchen trat er als Mitglied bei, nämlich dem Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB), dem Reichsluftschutzbund (RLB), der Schutzstaffel (SS), allerdings nur vorübergehend zwischen 1934 und 1937 als för-derndes Mitglied, und schließlich am 1. Mai 1937 der NSDAP als ordentliches Mitglied, nachdem die Partei die generelle Mitgliedersperre aufgehoben hatte. Insbesondere an dem überlieferten ‚Gemeinschaftsbuch’ von Eben-Ezer, das die Anstaltsleiter Heinrich Diehl und Herbert Müller zwischen 1933 und 1939 gemäß den Auflagen der DAF zu führen hatten, lässt sich zeigen, dass insbesondere Müller in den beiden Funktionen eines betrieblichen Luft-schutzführers und im „parteispezifischen Rang eines Untergruppenführers“ die Gleichschaltungsstrategien des NS-Regimes pflichtbewusst befolgte und gegenüber dem Personal Eben-Ezers konsequent handhabte.

Dass der Heilpädagoge Herbert Müller selbst in seinem engeren Aufgabengebiet, nämlich der Erziehung und Unterrichtung von Kindern, vor allem aber von Jugendlichen, seine eigenen beruflichen Anliegen und Vorstellungen wiederholt zurückstellte, wenn sich der na-hezu 40 Jahre ältere ehemalige Missionar und Anstaltsleiter Heinrich Diehl der Anstaltserzie-hung annahm und auch ihre konzeptionelle Ausrichtung erläuterte, lässt sich allein schon an den seit 1927 einigermaßen regelmäßig publizierten Jahresberichten entnehmen. Ein deutlich erkennbarer Anhaltspunkt für das in diesem Arbeitsbereich dominante Auftreten des Anstalts-leiters sind die von ihm zwischen 1929 und 1934 verfassten und in den Jahresberichten abge-druckten Erziehungsberichte. Denn Diehl ließ es sich nicht nehmen, diese Berichte, in denen er auch die für Eben-Ezer ausschlaggebenden „Erziehungsgrundsätze“ 1933/1934 dem inter-essierten Publikum erläuterte, selbst zu verfassen, statt diese zentrale Aufgabe dem Heilpäd-agogen Herbert Müller zu überlassen, der im Februar 1931 sein Studium für Hilfsschullehrer abgeschlossen hatte und seit 1932 die Anstaltsschule leitete. Erst 1938 vermochte Müller sei-nen ersten Schulbericht zu verfassen und auch im Jahresbericht zu veröffentlichen, als der Anstaltsleiter Diehl gesundheitlich stark angeschlagen war und in Kur gehen musste.

Abb. 2: Ausflug des Lehrers und Schulleiters Herbert Müller mit zahlreichen Jugendlichen in den Teutoburger Wald (Jahresbericht 1934/1935)

Abb. 2: Ausflug des Lehrers und Schulleiters Herbert Müller mit zahlreichen Jugendlichen in den Teutoburger Wald (Jahresbericht 1934/1935)

Die völlige Akzeptanz dieses dominanten Verhaltens des Anstaltsleiters Heinrich Diehl durch den Schuleiter Herbert Müller ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass er ihm nicht nur seine Anstellung und Förderung, sondern auch seine Karriere in Eben-Ezer verdankte. Denn infolge der tatkräftigen Unterstützung des Anstaltsleiters und des Wohlwollens, das ihm auch der Vorstandsvorsitzende Pastor Enno Eilers entgegenbrachte, vermochte der junge Volkschulleh-rer und Erzieher in den ersten drei Jahren seines Dienstes in Eben-Ezer zwischen 1928 und 1931 noch ein Studium an der Pädagogischen Akademie in Dortmund zu absolvieren, um sich zum Hilfsschullehrer ausbilden zu lassen. Zu diesem Zweck wurde er an mindestens zwei Tagen in der Woche von seinem Dienst in Eben-Ezer freigestellt. Diese offensichtliche Förde-rung des Lehrers durch den Anstaltsleiter Heinrich Diehl machte diesem der Pfleger Andreas Sweers, der immerhin die Funktion eines Betriebsobmanns innehatte und Parteimitglied war, im Frühjahr 1937 zum Vorwurf, als er den Anstaltsleiter Diehl vor versammelter Belegschaft der „Günstlingswirtschaft“ bezichtigte. Trotz massiver Intervention der DAF wurde der Pfle-ger vom Vorstand noch in demselben Jahr entlassen.

Dass die Konturen der realen Persönlichkeit Herbert Müllers und insbesondere ihre Charakteristika von seinem Biographen anfänglich nicht ohne weiteres erschlossen werden konnten, ist nicht zuletzt eine Folge seiner religiösen Selbststilisierung und seines stark in den Vordergrund gestellten christlichen Selbstverständnisses, so dass die reale Person hinter die-sem traditionsreichen Schemen verblasst und unter seinen Dienstobliegenheiten geradezu ver-schwindet. Besonders aufschlussreich für diesen Aspekt sind die wenigen erhaltenen Selbst-zeugnisse und die von Herbert Müller regelmäßig zu haltenden Andachten. Denn in diesen Texten stilisierte er sich im Geist und in der Sprache der Inneren Mission als ein von Gott geleiteter gläubiger Mensch, geradezu mustergültig formuliert in seiner Bewerbung vom 1. Oktober 1938 auf die Stelle des Anstaltsleiters in Eben-Ezer. Darin heißt es: „Ohne mein Wollen taten sich die Türen in Bethel für mich auf, wie auch zum Dienst an der männlichen Jugend im Westdeutschen Jungmännerwerk und ohne mein Zutun wurde ich auch in die Eben-Ezer-Arbeit gestellt. Rückschauend sehe ich dies alles als gütige Führung meines Gottes und Heilandes an.“ Dass Müller im Alter von 32 Jahren an seinen bisherigen Lebenslauf – „rückblickend“, wie er hervorhebt – einen göttlichen Plan, also die Vorsehung zu erkennen glaubte, ist mit Blick auf seinen weiteren Lebensweg überaus bemerkenswert und auch für die Entfaltung seines individuellen Selbstverständnis charakteristisch. Als ihn dann Ende Januar 1939 ein positiver Bescheid auf seine Bewerbung erreichte, war er nunmehr davon überzeugt, dass nicht nur die von den Verantwortlichen in Eben-Ezer getroffene Entscheidung der Vor-sehung Gottes entspreche, sondern auch sein Lebensweg im göttlichen Heilsplan vorgesehen sei. So antwortete er dem Vorstand am 26. Januar 1939 in großer Gewissheit über seine zu-künftige Aufgabe: „Ihre Wahl nehme ich an als ein ‚Ja’ meines Herrn und Heilands und stelle mich unter den Auftrag und in den Dienst des Herrn Christus, damit mein Dienen zum Segen unserer Pflegebefohlenen werde.“

In diesen Worten bündelt und manifestiert sich das von Herbert Müller im Verlauf der 1930er Jahre entwickelte Selbstverständnis als ein von Gott berufener Mann, der bei allen seinen Aufgaben der göttlichen Vorsehung folgt und damit – ungeachtet seiner individuellen Ängste, Nöte, Interessen und Absichten – letztlich den göttlichen Heilsplan vollzieht. Ihn be-drängende Anfechtungen jeglicher Art – auch und gerade während des NS-Regimes und des Zweiten Weltkrieges – sollten diese ihm eigene Glaubensgewissheit nicht erschüttern und ihn als Anstaltsleiter mitunter auch nicht in Verzweiflung stürzen, ungeachtet seiner vielseitigen Verantwortung insbesondere gegenüber Bewohnern und Bewohnerinnen. Zumindest ist bisher kein einziges Schriftstück aus seiner Feder gefunden worden, worin er Selbstzweifel, Irritati-on, Versagensängste und Mutlosigkeit auch nur angedeutet hätte. Diese religiös-christliche Selbststilisierung ist – gelinde gesagt – sehr voraussetzungsvoll und stark normativ geprägt, so dass sich Fragen nach dem Stellenwert und der Relevanz eines solchen Selbstverständnis-ses im Alltagshandeln Herbert Müllers aufdrängen, dessen Persönlichkeit in einer historischen Biographie jenseits solcher Stilisierungsbemühungen nämlich konkret und charakteristisch vor Augen treten sollte.

IV. Der Heilpädagoge Herbert Müller – Chancen einer historischen Biographie über einen frühen Vertreter des neuen Berufszweigs der Heil- bzw. der Sonderpädagogik

Dass eine umsichtige Sichtung der Überlieferung, eine wiederholte Lektüre einschlägiger Schriftstücke über Herbert Müller und insbesondere der von ihm selbst verfassten Texte durchaus Perspektiven für eine systematische Betrachtung und Analyse seines Werdeganges und seiner Persönlichkeit für die Zwecke einer Biographie eröffnen, zeigt der Blick auf seine pädagogische Begabung, seine heilpädagogische Ausbildung und seine Praxis als Erzieher und Lehrer in Eben-Ezer. Schon aus seiner Schulzeit in Schwerte finden sich Stellungnahmen und auch noch später manche Zeugnisse während seiner vielfältigen heilpädagogischen Aus-bildung, die beredt Auskunft geben über seine – meiner Einschätzung nach – zunächst als emotionale und später dann auch als kognitive Empathie benennbaren Eigenschaften und Fä-higkeiten sowie über seine offenbar außergewöhnliche Befähigung zum Heilpädagogen. Diese vielseitige Kompetenz lässt sich bei eingehender Betrachtung diverser Bewohnerakten sowohl an seinem Umgang mit Kindern und Jugendlichen als auch an seiner Ausdrucksweise in Berichten, Kommentaren, Intelligenztests und Briefen erschließen.

Bereits der Schuldirektor lobte am Ende der Schulzeit Herbert Müllers in Schwerte im Frühjahr 1920, als er sich im Alter von 13 Jahren befand, nicht nur „sein bescheidenes We-sen“, sondern machte auch darauf aufmerksam, dass er „die Liebe seiner Lehrer“ erworben habe. Dieser deutlichen und ungewöhnlich emotionalen Wertschätzung des Schülers durch seine Lehrer dürfte nicht zuletzt der bemerkenswerte Sachverhalt zugrunde gelegen haben, dass er während seiner Schulzeit über vier Jahre hinweg „einen gelähmten Knaben“ betreut hatte, und zwar von seinem zehnten bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr. Nach Abschluss seiner Praktika in der Krankenpflege in der Heil- und Pflegeanstalt Hephata bei Treysa be-scheinigte ihm der Anstaltsarzt Dr. Wilhelm Wittneben im September 1928, dass er im Unter-richt „sehr großes Verständnis, besonders für die Lehre von den krankhaften Seelenvorgän-gen“ gezeigt habe. Mit großem Wohlwollen beschloss er sein Zeugnis und schrieb: „Ich halte Herrn Müller, der sicher eine angeborene Begabung für Kranken- und Schwachsinnigen-Pflege besitzt, für durchaus befähigt, selbständig die Pflege von Kranken und Schwachsinni-gen zu übernehmen und Unterricht an Geistesschwachen zu erteilen.“

Als Herbert Müller für ein knappes Jahr zwischen 1927 und 1928 als Filmbegleiter für den Westdeutschen Jünglingsbund tätig war, führte ihn dieser Dienst auch nach Lemgo, wo er im Gemeindehaus am Rampendal im Februar 1928 ein Lichtbildvortrag zum Thema ‚Freiheit und Freude’ hielt, dem auch der Anstaltsleiter Heinrich Diehl beiwohnte. Während seines dreitägigen Aufenthaltes in Lemgo wohnte Müller bei Heinrich Diehl im Verwaltungsgebäu-de von Eben-Ezer. Der Volksschullehrer Müller vermochte Diehl nicht nur fachlich zu über-zeugen, sondern auch seine persönliche Wertschätzung zu erlangen. Diese Sympathie kommt in folgenden Worten deutlich zum Ausdruck, die Diehl einige Jahre später rückblickend no-tierte: „Dieser gediegene Vortrag zeugte von heiligem Eifer und großer Liebe für die männli-che Jugend unseres Volkes.“ Und weiter: „Der durchaus biblische Vortrag, sowie der Um-gang mit Herbert Müller, der als entschieden gläubiger Christ und wie mir damals schon schien als tüchtiger Lehrer sich gab, ließ in mir die Überzeugung reifen, dieser Junglehrer sei der Mann für Eben-Ezer, nachdem ich schon lange ausschaute.“

Dass der junge Erzieher und Lehrer offenbar ganz selbstverständlich mit Kindern und Jugendlichen – ob behindert oder nicht – umzugehen verstand, lässt sich an manchen frühen Photo-graphien erahnen, die sein Schwiegersohn Werner Bussemeier bereitgestellt hat. Eines dieser Photos – das auch auf dem Titelblatt der Biographie zu sehen ist – zeigt den 25 Jahre alten Herbert Müller inmitten von 13 Kindern in Begleitung einer Schwester im Mai 1931 auf einer Wiese. Zu seinen Füßen sitzt im Schneidersitz offenbar Hans Heißenberg, der sich zu dieser Zeit im Alter von fast sieben Jahren befand. Er wurde in der Vorschule 1929 und 1930 u. a. von der Kleinkinderlehrerin Anna Tackenberg – der späteren Ehefrau Herbert Müllers – un-terrichtet, während der Schulleiter Herbert Müller drei Jahre später das erste Mal seinen Intel-ligenzquotienten ermittelte. Einen solchen Intelligenztest wiederholte er dann später noch vier Mal, um letztlich die Entwicklungspotentiale des jugendlichen Hans ermitteln und dokumen-tieren zu können. Nachdem der Anstaltsarzt Dr. Hans Haberkant dem 16 Jahre alten Jungen 1940 aber „angeborenen Schwachsinn“ attestiert hatte, dessen erbliche Ursachen er anhand einer Sippentafel glaubte veranschaulichen zu können, wurde Hans Heissenberg sterilisiert.

Die auf dem Photo zu sehenden Kinder einschließlich Hans Heissenbergs machen nicht nur einen ungezwungenen Eindruck und wirken entspannt, sondern sie scheinen den 25 Jahre alten Erzieher und Lehrer Müller auch nicht zu fürchten, vielmehr schienen sie gewillt gewesen zu sein, ihm zu vertrauen. Das an der Bewohnerakte von Heissenberg erschließbare bemerkenswerte Vertrauensverhältnis zwischen ihm und Herbert Müller bestand bis in die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg fort, als sich der Anstaltsleiter Müller um eine ge-eignete Arbeitsstelle für den inzwischen über 20 Jahre alten jungen Mann kümmerte und ihn beispielsweise vor der anstrengenden und gefährlichen Tätigkeit in einem Bergwerk bewahr-te. Allerdings verweigerte er seinem Schutzbefohlenen Hans im März 1946 nicht nur die Zu-stimmung zu dessen Heiratswunsch, sondern er ließ ihn auch noch entmündigen. In diesem Zusammenhang stellte der Anstaltsleiter gegenüber dem Amtsarzt im Gesundheitsamt in Lemgo apodiktisch fest: „Eheschließung ist doch keine Spielerei und hier liegt für jeden Laien klar und offensichtlich auf der Hand, dass diese Eheschließung zum Scheitern verurteilt ist.“

Der Schwerpunkt der pädagogischen Arbeit Herbert Müllers bestand in den ersten Jahren seines Dienstes in Eben-Ezer darin, die bestehende Anstaltsschule durch den Aufbau von Fortbildungsklassen für diejenigen Jungen und Mädchen zu erweitern, die bereits die Oberklasse erfolgreich absolviert hatten. Während er für den Unterricht dieser Jungen zustän-dig war, übernahmen die beiden Lehrschwestern Anna Tackenberg und Friedel Ederhof den Unterricht für die Mädchen. Die pädagogische Betreuung in diesen neuen Klassenstufen dien-te der Vorbereitung auf das Berufsleben und hatte letztlich die Funktion einer Art „Berufs-schule“, worüber der Anstaltsleiter Heinrich Diehl im Jahresbericht 1930/1931 dem Publikum mit Stolz berichtete. Die nachstehende Photographie zeigt den Schulleiter Müller in einem Klassenraum, als er Jungen der Fortbildungsklasse Unterricht erteilte. Im Hintergrund der abgebildeten Unterrichtsszenerie Mitte der 1930er Jahre sind eine Weltkarte und ein Plakat der Reederei Hapag-Lloyd zu erkennen, die beide an der Wand angebracht sind.

Abb. 3: Der Lehrer und Erzieher Herbert Müller mit Kindern 1931

Abb. 4: Schulleiter Herbert Müller unterrichtet eine Fortbildungsklasse für Jungen (Jahresbericht 1935/1936, S. 8f.)

In diesem auf berufliche Ausbildung zielenden Unterricht in der spätestens 1932 staatlich anerkannten anstaltseigenen Hilfsschule bestand eines der wesentlichen fachlichen Reform-vorhaben der Einrichtung Eben-Ezer, dem sich der Vorstand von 1927 an widmete. Damit trug er beispielsweise dem Reichs-Jugend-Wohlfahrtsgesetz von 1924 Rechnung, das aus-drücklich auch die Hilfsschulen einbezog. Zu diesem Zweck sollten die Jugendlichen neben dem Unterricht in den Fortbildungsklassen auch arbeitstherapeutische Maßnahmen in den betriebseigenen Werkstätten und in dem landwirtschaftlichen Betrieb des Meierhofs, der sich in unmittelbarer Nähe der Anstalt Eben-Ezer befand und 1913 angelegt worden war, besuchen und dort einen beruflichen Abschluss machen.

Gemäß dem damals favorisierten Prinzip der offenen Fürsorge zielten alle diese päd-agogischen Bemühungen darauf ab, die so betreuten Jugendlichen soweit als möglich zu befähigen, ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten zu können und damit auch eine gewisse bür-gerliche Selbständigkeit zu erringen. Diesem ambitionierten Vorhaben diente die Einführung von Familienpflegestellen außerhalb der Einrichtung Eben-Ezer in bäuerlichen und handwerk-lichen Familienbetrieben vorzüglich im Raum Lippe, womit auf Initiative des Anstaltsarztes Dr. Max Fiebig 1929 begonnen wurde. Die pädagogische Betreuung dieser nunmehr auswärts wohnenden und arbeitenden Jugendlichen oblag ganz wesentlich dem Heilpädagogen Herbert Müller, der zusammen mit seinen Kollegen und in Absprache mit staatlichen Fürsorgerinnen die Familienpflegestellen regelmäßig aufsuchte.

Im Verlauf der 1930er Jahre wurden schätzungsweise 20 bis 30 solcher auswärtigen Wohn- und Arbeitsstellen geschaffen, deren Anzahl sich während des Zweiten Weltkrieges und auch kurz nach Kriegsende kaum änderte, um dann in den 1950er Jahren auf über 160 Familienpflegestellen in die Höhe zu schnellen. Dass dem Heilpädagogen Herbert Müller die gewissenhafte Betreuung dieser Jugendlichen nach wie vor wichtig war, bezeugen sowohl Verwaltungsakten als auch manche Bewohnerakte wie etwa die von Harry Döhring, Hans Heissenberg, Walter Schönlau und Gustav Schröder. Für jeden von ihnen war der dama-lige Schul- und Anstaltsleiter Müller eine ganz wesentliche, wenn nicht sogar die entschei-dende Vertrauensperson, zumal er nicht selten sogar auch noch ihr Vormund war. Ihren jewei-ligen Erwartungen ihm gegenüber wollte er so weit als möglich entsprechen, worüber die z. T. intensive Korrespondenz mit seinen zahlreichen Schutzbefohlenen Aufschluss bietet.
Demnach erlauben insbesondere die zahlreich überlieferten Bewohnerakten der Ein-richtung Eben-Ezer, in denen – wie nur selten – auch die Krankenberichte und sogar des Öfte-ren die Schulberichte enthalten sind, nähere Einblicke in die Anstaltspraxis im Allgemeinen und in die heilpädagogische Praxis des Lehrers und Erziehers Herbert Müller im Besonderen, der über zwanzig Jahre hinweg (1932-1952) die Anstaltsschule leitete. Diese Aufgabe über-nahm 1952/1953 der Hilfsschullehrer Heinz Behr, der einige Jahre zuvor an der Pädagogi-schen Akademie in Dortmund einen „Lehrgang für Heilpädagogik“ absolviert hatte und am Aufbau der Anstaltsschule auf dem Wittekindshof beteiligt gewesen war. Ein Jahr nach sei-ner Anstellung verfasste Behr seinen ersten Schulbericht für die Einrichtung Eben-Ezer.

Welchen heilpädagogischen Zielsetzungen sowohl diese leitenden Erzieher und Lehrer als auch das zumeist weibliche Lehrpersonal in der Anstaltsschule während der späten Weimarer Republik, im NS-Staat und dann in der frühen Bundesrepublik Deutschland folgten und welche Relevanz sie diesen und anderen, eher weltanschaulich und religiös akzentuierten Vorstellungen in der heilpädagogischen Praxis in Eben-Ezer faktisch beimaßen, lässt sich dank der vergleichsweise guten Überlieferungslage dieser Einrichtung ermitteln und analysie-ren; zu manchen dieser Aspekte leistet die nun vorliegende Biographie über Herbert Müller einen ersten Beitrag. Solche genaueren Einblicke in die heilpädagogische Praxis des leiten-den Fachpersonals einer Einrichtung schaffen empirisch gesicherte Grundlagen für historio-graphische Zwecke einer Biographie und einer institutionsbezogenen Monographie, im vor-liegenden Fall sind das die Person Herbert Müller und die Institution Eben-Ezer. Darüber hin-aus tragen solche Informationen auch zur Anreicherung methodisch erworbener Kenntnisse bei, um die historische Erforschung des seinerzeit erst im Entstehen begriffenen Berufszweigs der Heil- bzw. der Sonderpädagogik und auch die Etablierung des neuen akademischen Fa-ches Sonderpädagogik weiter auf zu hellen.

An der Durchsetzung der neuen Fachbezeichnung ‚Sonderpädagogik’ zu Ungunsten der älteren Bezeichnung ‚Heilpädagogik’ beteiligten sich heilpädagogische Verbandsvertreter wie insbesondere Karl Tornow, Alfred Krampf, Martin Breitbart und Gustav Lesemann seit Mitte der 1930er Jahre. Während die Erforschung verbandspolitischer Strategien dieser Fachvertreter während des NS-Regimes und der frühen Bundesrepublik inzwischen deutlich vorangeschritten ist, das gilt erst recht für das offizielle, in Verbandsorganen publizierte Selbstverständnis der Hilfsschullehrer, fehlt es weiterhin an Fallstudien über die heilpäd-agogische Praxis in städtischen Hilfsschulen und in Anstaltsschulen, so dass die jetzt vor-liegende Biographie über den Schulleiter Herbert Müller und seine Vorgehensweise durchaus Neuland betritt. Denn die Heil- bzw. die Sonderpädagogik umfasst ein ziemlich unübersichtli-ches und weitläufiges Arbeitsgebiet, dessen Unübersichtlichkeit nicht zuletzt auch mit der Verschiedenartigkeit vormaliger Pflege- und Heilanstalten und ihrer jeweiligen Geschichte zusammenhängt.

Der nun vorliegenden Biographie lässt sich entnehmen, dass der Heilpädagoge Herbert Müller und auch manche in der Frauenmission Malche ausgebildete Lehrschwester, zu denen beispielsweise auch seine Ehefrau Anna Müller, geb. Tackenberg, als Kleinkinderlehre-rin (Kindergärtnerin) zu zählen ist, im Alltag nicht ohne weiteres den rassekundlich und sozi-aleugenisch motivierten Direktiven des NS-Regimes folgten, worin sie sich – zumindest punktuell und phasenweise – von dem ehrgeizigen Anstaltsarzt Dr. Max Fiebig und von sei-nem auffallend nachlässig vorgehenden Nachfolger Dr. Hans Haberkant unterschieden. Daher hat sich der Biograph sowohl um eine Auslotung solcher Unterschiede in der Betreuung, Beschulung und Begutachtung von Bewohnern durch das Fachpersonal als auch um die Erschließung von einschneidenden Vorgängen bemüht, infolge derer – wie beispielsweise zwi-schen 1935 und 1938 und dann mit Kriegsbeginn im September 1939 – die Anstaltspraxis insgesamt erhebliche Veränderungen zu Ungunsten der Bewohnerinnen und Bewohner erfuhr.

Da der Biograph dem Auftrag der diakonischen Stiftung Eben-Ezer gemäß u. a. Fra-gen nach der Verantwortlichkeit des Heilpädagogen Herbert Müller als Schulleiter (1932-1952) und dann als Anstaltsleiter (1939-1968) für solche und andere beunruhigende Vorgänge in der Einrichtung – allen voran die seit Anfang April 1937 einsetzenden Verlegungen von Bewohnern und auch die erhöhte Sterblichkeit unter den Bewohnern seit 1939 – in den Blick zu nehmen hatte, bedurfte es u. a. der Rekonstruktion seiner Dienstobliegenheiten und Zu-ständigkeiten, indem beispielsweise seine Arbeitsverträge herangezogen wurden. Solche Fra-gen ließen sich aber – entgegen der Erwartung des Biographen – nicht ohne weiteres beant-worten, weil bei der Recherche institutionelle Krisen der Einrichtung seit 1935 erkennbar wurden, die zunächst einer eingehenden Analyse bedurften.

Hinzu trat im Verlauf der Ausarbeitung insbesondere des zweiten Kapitels der Biographie die Einsicht, dass Herbert Müller offenbar schon früh eine bemerkenswerte Empathie für geistig und psychisch behinderte Menschen zu erkennen gab, nämlich emotionale Empathie, und diese Eigenschaft während seiner vielseitigen pädagogischen Ausbildung weiter ausge-staltete, nämlich im Sinne kognitiver Empathie, so dass er für heilpädagogische Aufgaben geradezu prädestiniert war, wenn man dem Tenor der überlieferten Zeugnisse über ihn folgt. In Anbetracht seiner persönlich, beruflich und auch christlich gelagerten empathischen Grundeinstellung, die sich – so einer der Befunde der Biographie – Zeit seines Lebens nicht änderte, müsste sich Herbert Müller spätestens seit 1935 in einem permanenten Rollenkonflikt während des NS-Regime befunden haben, als die Menschen verachtenden Zielsetzungen dieses Regimes auch in der Anstaltspraxis immer deutlicher in Erscheinung traten. Über sol-che konfliktreichen Konstellationen hat sich Müller allerdings nie weder schriftlich noch mündlich irgendjemandem gegenüber mitgeteilt; das bezeugen auch alle noch lebenden Zeit-genossen, mit denen der Biograph zu Beginn der Ausarbeitung der Biographie wiederholt Interviews geführt hat. Hingegen konnten von dem Anstaltsleiter Heinrich Diehl in Ansätzen, vor allem aber von mehreren Pastoren, darunter insbesondere der Vorstandsvorsitzende Enno Eilers, teilweise bemerkenswerte Rollenkonflikte während des NS-Regimes ermittelt und er-läutert und mit den nachweisbaren Verhaltensweisen des Schulleiters Herbert Müller kontrastiert werden.

Für eine methodisch abgesicherte Rekonstruktion solcher Aspekte der Persönlichkeit Herbert Müllers und ihres Verhaltensrepertoires hat der Biograph verschiedene Ansätze vor allem der Soziologie zu Fragen zeit- und gruppenspezifischer Sozialisation, Ausbildung, Ge-nerationslagerung und Übernahme sozialer Rollen (Karl Mannheim, Ralf Dahrendorf, Pierre Bourdieu), aber auch der Individual- und Sozialpsychologie zu Fragen zeit- und gruppenspe-zifischer Individuation, Adoleszenz, Sozialisation, Identität und Erinnerungsfähigkeit (Erik Erikson, Alexander Mitscherlich) in Anspruch genommen. Mit Hilfe dieser begrifflichen In-strumentarien konnten die wenigen überlieferten persönlichen Schriftstücke über und von Herbert Müller gewissermaßen zum Sprechen gebracht und für die Biographie nutzbar ge-macht werden. Solche analytischen und historisch-sozialwissenschaftlichen Betrachtungswei-sen sind in der Geschichtswissenschaft zwar seit längerem bekannt, sie werden aber bis heu-te eher selten in Anspruch genommen. Eine Ausnahme von dieser Regel bilden manche Un-tersuchungen, die den Impulsen der neuen, methodisch reflektierenden Diakoniegeschichte folgen und erst recht solche Arbeiten, die Ansätze der Disability History aufgreifen, bei der es sich im deutschsprachigen Raum um einen noch relativ neuen Forschungszweig handelt.